Fernweh

… und Heimat  – Franziska Neudorf, Lehrerin am Evangelischen Ratsgymnasium Erfurt, schildert mit ihren Gedanken zur Woche, wie sie in Corona-Zeiten heimisch geworden ist und wie wichtig es ist zu wissen, dass Familie und Freunde auch in der Ferne für einen da sind.

Liebe Schülerinnen, liebe Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Eltern,

als mich unser Pfarrer Heiko Ackermann letzte Woche fragte, ob ich Lust dazu hätte, eine Andacht zu schreiben, erbat ich mir kurze Bedenkzeit, fand die Idee aber eigentlich ganz gut – so schwer kann das ja nicht sein. Als ich dann vor dem leeren Bildschirm saß, merkte ich, dass es aber ganz und gar nicht einfach ist. Ein Thema zu finden, das nichts mit Corona zu tun hat, fiel mir sehr schwer, denn über Corona wollte ich auf gar keinen Fall schreiben.

Ich habe hin und her überlegt, zwischendurch immer wieder mal auf mein Handy geschaut und bei WhatsApp bin ich über mein eigenes Profilbild „gestolpert“. Zu sehen ist eine Aufnahme, die ich letzten Sommer in den Ferien gemacht habe – ein Bild vom Meer und daneben steht „Fernweh“. Vor einigen Wochen bereits habe ich dieses Bild hochgeladen und ja, ich habe Fernweh. Der Gedanke daran, diesen Sommer nicht verreisen zu können, ist nicht unbedingt hilfreich. Eigentlich habe ich schon immer Fernweh. Auf Englisch heißt Fernweh „wanderlust“ – und die Lust zu „Wandern“ habe ich, solange ich zurückdenken kann. Ich liebe es zu verreisen, habe dieses tiefe, innere Bedürfnis die Welt zu sehen, Neues zu erleben. Als ich vor vielen Jahren mein Abitur in der Tasche hatte, schenkten mir meine Eltern etwas Geld. Ich sollte davon meinen Führerschein bezahlen, oder mir ein Flugticket kaufen. Zwei Tage später landete ich in San Francisco und da fing alles an.

Inzwischen führten mich meine Reisen nach Kenia, Griechenland und Tunesien. Ich war barfuß im Rattentempel in Colombo und sechs Monate „Work and Travel“ verbrachte ich in Pennsylvania und New Jersey. Ich war schnorcheln vor Haiti und am Süd-Malé-Atoll, war auf dem Eiffelturm und im Greenwich Park. Ich habe am Han River in Seoul gegrillt, in den Everglades Alligatoren beobachtet und mit dem Rucksack bin ich durch Japan gereist. New York City war unzählige Male das Ziel meiner Reise. Insgesamt habe ich fast drei Jahre meines Lebens im Ausland verbracht und es hat mich sehr geprägt, ganz klar, neben meiner Familie, zu der Person gemacht, die ich bin.

Vor meiner ersten großen Reise hat meine Mutter mir einen Brief geschrieben, ich sollte ihn erst lesen, wenn ich am Ziel bin. Ich habe den Brief noch immer und ich weiß auch noch genau, wie es mir erging, als ich ihn im Studentenwohnheim des Ursinus College, in Collegeville, gelesen habe. Sie schrieb davon, wie schwer Abschiednehmen ist, wie sehr meine Eltern mich vermissen werden und ich sie an all meinen schönen Momenten und auch Sorgen teilhaben lassen soll. Ich sei nun fernab der Heimat und sie in Gedanken und mit all ihrer Liebe immer bei mir.

Da saß ich nun, in einem 10m² großen Zimmer, möbliert einzig mit Bett und Schreibtisch, fernab der Heimat, umgeben von mir vollkommen fremden Menschen, an einem Ort, von dem ich noch nicht einmal wusste, wo ich mir eine Flasche Wasser kaufen könne. Ich war am Ziel und völlig unerwartet zutiefst traurig. Ich habe mich niemals zuvor so einsam gefühlt, meine Eltern und Freunde so sehr vermisst. Aber die waren alle 7.000 km weit entfernt. Aus Fernweh wurde ganz plötzlich Heimweh. Ich war tatsächlich fernab der Heimat und ich glaube, genau da habe ich mir auch zum ersten Mal Gedanken darüber gemacht, was es bedeutet, eine Heimat zu haben. Man sagt immer, Heimat ist da, wo dein Herz wohnt. Wo wohnt mein Herz? Warum gibt es keinen Plural von „Heimat“? Kann mein Herz nur an einem Ort wohnen?

Mein Herz wohnt ganz klar da, wo meine Familie ist. Da ist mein Zuhause, mein Heim, der Ort an dem ich Auftanke, frei bin, glücklich bin. Mein Herz wohnt aber auch bei meinen Eltern, in einem kleinen Ort im Vogtland, in dem auch meine Großeltern lebten. Hin und wieder wohnt es an einem weit entfernten Ort und zwar genau dann, wenn man etwas sieht, was einem das Herz überquellen lässt. Wenn die Welt sich in einer Schönheit zeigt, die ganz klar vor Augen führt, wie wunderbar sie erschaffen wurde. Zum Beispiel dieser Sonnenuntergang, den wir in Österreich gesehen haben. Unfassbar schön.

Vor einem halben Jahr sind wir nach Kirchheim gezogen. Kirchheim ist ein Dorf mit rund 1.000 Einwohnern, 15 Fahrminuten von Erfurt entfernt. Es liegt mitten im Grünen, die Wipfra fließt durch den Ort und die einzigen Geräusche, die uns morgens wecken, sind die von unglaublich vielen Vögeln. In unserem Garten brüten Tauben, es gibt Amseln und Spatzen, Grünfinken, Kleiber, Eichelhäher, wir haben zwei Buntspechte und einen Grünspecht, leider auch Gänse im benachbarten Garten : ), weit entfernt kräht ein Hahn und die Schwalben sind wieder da. Nachts gibt es sogar eine Nachtigall.

Ich habe erfahren, dass Kirchheim im Mittelalter das größte Waidanbaugebiet der Region war und sieben Waidmühlen besaß. Es war in früheren Zeiten auch das einzige Dorf der Region, in dem es zwei Kirchen gab. Bis heute erhalten und umfangreich restauriert ist die Kirche des „Heiligen St. Laurentius“. Im Inneren fasziniert ein tiefblaues Deckengemälde von Max Liebermann, einem Mitglied der Weimarer Malerschule. Im Jahr 2015 errang die Kirche den ersten Platz eines Wettbewerbes der „Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler“ in Deutschland. Sie wurde zur „Kirche des Jahres“ gewählt.

Ja, hier wohne ich jetzt und plötzlich habe ich auch Zeit, mir alles näher anzuschauen und die Gegend zu erkunden. Was soll ich sagen, ich liebe es hier zu leben. Ich merke, wie glücklich wir hier sind, wie meine Kinder zur Ruhe kommen, wie ich mein Herz mehr und mehr an diesen Ort verliere und er zu meiner Heimat wird. Auch wenn ich nicht über Corona schreiben wollte – ich habe es genau dieser vollkommen unerwarteten Auszeit zu verdanken, dass ich hier restlos angekommen bin.

Nach wie vor werde ich immer wieder auch Fernweh haben und ich bin glücklich, dass auch meine Familie mit dem gutartigen Reisefieber infiziert ist. Wir werden gemeinsam noch viel von der Welt entdecken. Schneller als mir lieb sein wird, werde ich dann als erstes einen Brief an meinen inzwischen 14-jährigen Sohn schreiben, der, begleitet von all meiner Liebe, fernab der Heimat seinen Weg gehen wird, den ich so sehr vermissen werden. Dann wünsche ich mir, dass er mir von seinen schönen Momenten aber auch Sorgen erzählt. Gott sei Dank dauert es noch eine Weile und wenn es dann soweit ist, lässt er hoffentlich einen Teil seines Herzens hier bei mir, bei uns, in Kirchheim.

Alles Liebe und eine gesegnete Woche, wo auch immer euer Herz wohnt oder einmal wohnen wird, eure Reisen bereits hinführten, oder euch hinführen werden. Egal wo ihr schöne oder auch sorgenvolle Momente erlebt habt oder erleben werdet, vergesst die Heimat nicht und all die, die dort für euch da sind und da sein werden und euch lieben.

Franziska Neudorf