Endlich sehen wir uns wieder
In unseren Schulen wird es von Woche zu Woche lebendiger. Die Schülerinnen und Schüler sind in Präsenzgruppen eingeteilt und sehen stundenweise einen Teil ihrer Klassenkameraden und Fachlehrer. Christina Müller, Lehrerin am Evangelischen Ratsgymnasium Erfurt, teilt ihre Gedanken zur Woche mit Blick auf ihr Radieschen-Beet, Black-Boxen sowie Masken.
Liebe Schülerinnen und Schüler, wir sehen uns wieder. Richtig im Ganzen, von Kopf bis Fuß. Ich versuche mich zu erinnern, wie ihr ausseht. Damals, bevor alles zumachte, gab es Große, Kleine, Verstrubbelte, Aufgeregte, Langsame, Chaotische, Fröhliche, Nachdenkliche, Neugierige, Träge, Originelle, Bunte, …
Die konnte ich sehen.
Es gab auch Laute, Stille, Kreischende, Flüsternde, Durchgedrehte, Aggressive, Musikalische,…
Die konnte ich hören.
Wir haben uns gesehen und gehört. Wenn es in den Pausen eng wurde, haben wir uns manchmal gefühlt, und nach so mancher Sportstunde – oder wenn jemand ausprobiert hat, wieviel Deo in einen Klassenraum passt – haben wir uns auch gerochen.
Damals, bevor alles zumachte. Dann gab es nur noch Schriftliches. Und, wenn man eine Online-Stunde organisierte, gab es bewegte Bilder auf dem Bildschirm: Verpixelt, verzögert, verfremdet.
Manchen hat es nicht gefallen, immerzu sein eigenes Bild anzugucken. Vielleicht kam man gerade aus dem Bett oder war gar noch drin, oder man hatte das Frühstücksmüsli noch im Milchbart kleben. Oder der kleine Bruder, ewig nervig, guckte immerzu mit in die Kamera oder zog einen von hinten an der rausgewachsenen Frisur. Oder der Hund hatte die Tastatur vollgesabbert. Oder man fand keine Stelle im Zimmer, die man als Hintergrund nehmen könnte; überall hingen die Klamotten von gestern, die Chipstüten und Schokoladenpapiere von vorgestern oder die Spiegel, Lippenstifte, Wimperntusche und Nagellackfläschchen von der letzten Kosmetiksitzung.
Da lässt man die Kamera lieber aus. Zumal der Wellensittich gerade auf die Linse gekackt hat.
Bei meiner letzten Online-Stunde in einer hier nicht näher benannten Klasse habe ich fünf Gesichter und etwa zwanzig schwarze Vierecke gesehen. Eine Sammlung von Black-Boxen. Ich kam mir vor, als würde ich eine Wanderung durch eine komplett finstere und stille Höhle leiten müssen, mit einer unbekannten Anzahl von lautlosen Teilnehmern, die alle heimlich in Seiteneingänge verschwinden und dort wer weiß was machen. Mein inneres Alarmsystem, das immer noch darauf eingestellt ist, mit ganz normalen Menschen ganz normal zu kommunizieren, piepte unaufhörlich.
Aber wir sehen uns wieder!
Die Black-Boxen verwandeln sich wieder in Menschen, die Stille der ausgeschalteten Mikrofone wird wieder echten Stimmen weichen. Vielleicht werde ich wehmütig an Zeiten zurückdenken, in denen man einfach das Mikrofon ausschalten konnte…
Einige Klassen sind schon wiedergekommen. Die zwölften, die zehnten und die elften Klassen sind schon wieder da gewesen. Als ich die Klasse der Elfer zum ersten Mal betrat, saß jede/r hinter einem Tisch, dazwischen viel Platz. Der Anblick erinnerte mich an mein Radieschen-Beet, in dem ich gerade die Pflanzen vereinzelt hatte, verzogen nennt man das wohl. Aus dem wuchernden Durcheinander der jungen Pflänzchen hatte ich hübsch geordnete Reihen gemacht, mit genügend Platz für jedes Pflänzchen. Aber das Beet sah hinterher irgendwie verloren aus, eben nicht so richtig radieschenmäßig. Die Schülerinnen und Schüler auch. Obendrein hatten sie Mundschutz im Gesicht, der teilweise farblich schön zu ihrem Outfit passte. Ein Schüler trug ein Plexiglas-Visier und sah aus, als käme er von einem Dreh von Star Wars. Ein anderer war gar mit Gasmaske erschienen, was den Eindruck eines Kriegsschauplatzes noch verstärkte, und rollte irr mit seinen Augen hinter den bullaugenförmigen Sichtfenstern. Sprechen war etwas schwierig.
Aber interessanter noch als ihr Aussehen waren die Gedanken der Schülerinnen und Schüler. Als ich sie fragte, was uns denn bleiben könnte von dieser seltsamen Zeit, sagte eine Schülerin: Wertschätzung.
Und sie erklärten: Wertschätzung der Freunde, der Möglichkeit sich auszutauschen. Wertschätzung von: ja, von Schule, von Unterricht! Mit einem Lehrer in einer Klasse. Oder einer Lehrerin. Jedenfalls mit Menschen. Wertschätzung der Familie, mit der man jetzt gerade viel Zeit verbringen kann. Oder muss. Aber man kann versuchen, diese Zeit zu einer guten Zeit zu machen, denn irgendwann wird man sie nicht mehr haben. Das Englische hat dafür den schönen Begriff: Quality time.
Wertschätzung von: Zeit. In „normaler“ Schulzeit wird die Zeit für uns eingeteilt, zerhackt und zerklingelt in kleine Brocken. Und wenn ich den Stoff eines Fachs längst begriffen habe, muss ich trotzdem noch warten, bis es alle verstanden haben oder bis die Klingel mich erlöst. Und wenn ich noch ein bisschen mehr Zeit brauche, um etwas zu verstehen, oder noch mehr darüber wissen will, hilft das nichts: Die Klingel beendet die Stunde.
Das ist jetzt anders. Ich kann mir die Zeit so einteilen, wie ich sie brauche. Ich kann so lange schlafen, wie mein Körper es braucht. Eine Riesenchance – und eine Herausforderung an meine Selbstbeherrschung und meinen Lernwillen.
Wieder etwas gelernt, dachte ich. Und so soll es ja sein in einer Unterrichtsstunde: dass man etwas lernt. Vor allem, wenn man Lehrerin ist.
Übrigens: Wer in dieser besonderen Zeit etwas besonders Schönes, Interessantes, Ungewöhnliches oder Verrücktes lernt oder erlebt, kann das gern für die Nachwelt festhalten. Ich habe dafür ein Tagebuch einer Krise eingerichtet, in das alle Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern eintragen können.
Über Wertschätzung habe ich darin noch nichts geschrieben, aber es wird Zeit.
Vielleicht kommen wir ja verändert aus dieser Krise heraus, ein wenig dankbarer, nachdenklicher, vielleicht gar ein wenig klüger?
Ich wünsche uns allen eine gute, gesegnete Woche – bis wir uns wiedersehen!
Christina Müller